Invokavit

Am kommenden Sonntag Invocavit hören wir wieder die Geschichte von der Versuchung Jesu (Mt 4,1-11). Drei Verführungen präsentiert der Text: Wunderschein, Übermut, Macht. Viele Zeitgenossen sind heute davon überzeugt, es mache keinen Sinn mehr, von einem guten Gott zu reden – und man dürfe sich deshalb bei eigenen Plänen auch der Kraft des Bösen bedienen.

Jesus entschied anders. Er verwandelt Steine nicht in Brot, um die Sinne des Leibes zufrieden zu stellen. Er sprang auch nicht vom Dach des heiligen Tempels, um sich selbst und irgendwelchen Frauen zu imponieren. Er verschrieb seine Seele nicht dem Teufel, um Millionen hinter sich zu scharen, die ihm zugejubelt hätten „Wir sind das Volk!“ Denn der Mensch lebt erstens nicht vom Brot allein. Ihm sind zweitens Grenzen gesetzt, die man nicht ungestraft hinausschiebt. Und drittens gilt es, der Verführung zu ungeteilter Macht zu trotzen. 
Die Jesus-Geschichte vom Kennenlernen des eignen Gewissen geschah in der Wüste und im Horizont wirklicher Selbstbegegnung – die immer auch Gottesbegegnung bedeutet. Wie der Versucher für Jesus damals ausgesehen hat, wissen wir nicht. Vielleicht glich er dem eigenen seitenverkehrten Spiegelbild? Wir wissen nur, wie die heutigen Versucher aussehen. Und wir kennen ihre Angebote. Die sind durchaus verlockend. Sie suggerieren immer, zu den Richtigen gehören zu können, wenn wir dies oder das aus dem Katalog ihrer Programme tun bzw. dies oder das lassen. Jeder schaue da tief hinein in den eigenen Verstand. Denn dort versteckt sich der Versucher. Er kann sich sowohl mit den Masken der Vernunft unkenntlich – als auch in berechtig scheinenden Spontanaffekten verschwinden machen. Wer könnte ihm je entkommen? Genau deswegen bitten wir im Vaterunser – mehrere Male am Tage: „Und führe uns nicht in Versuchung.“ Oder ähnlich lautend: Führe uns  i n  der Versuchung. Man könnte auch sagen: Und führe uns d u r c h  die Versuchung, a u s  der Versuchung, t r o t z  der Versuchung. 

Stefan George hat 1907 in einem luziden Gedicht geahnt, was alles an ideologischen Verführungen würde kommen können. Es ist immer der Fürst des Geziefers, der sein Reich installieren möchte.  George schrieb gegen die Versuchungen der Neuzeit und beschrieb sie genau. Sein bekanntes Gedicht spielte u.a. eine wichtige Rolle im Kreis der Widerständler des „Geheimen Deutschlands” um Claus Philipp Maria Schenk von Stauffenberg. Das Gedicht heißt DER WIDERCHRIST. Hier in der bei Stefan George unverwechselbaren Orthographie: 

>Dort kommt er vom berge · dort steht er im hain!
Wir sahen es selber · er wandelt in wein
Das wasser und spricht mit den toten.<

O könntet ihr hören mein lachen bei nacht:
Nun schlug meine stunde · nun füllt sich das garn ·
Nun strömen die fische zum hamen.

Die weisen die toren – toll wälzt sich das volk ·
Entwurzelt die bäume · zerklittert das korn ·
Macht bahn für den zug des Erstandnen.

Kein werk ist des himmels das ich euch nicht tu.
Ein haarbreit nur fehlt und ihr merkt nicht den trug
Mit euren geschlagenen sinnen.

Ich schaff euch für alles was selten und schwer
Das Leichte · ein ding das wie gold ist aus lehm ·
Wie duft ist und saft ist und würze –

Und was sich der grosse profet nicht getraut:
Die kunst ohne roden und säen und baun
Zu saugen gespeicherte kräfte.

Der Fürst des Geziefers verbreitet sein reich ·
Kein schatz der ihm mangelt · kein glück das ihm weicht ..
Zu grund mit dem rest der empörer!

Ihr jauchzet · entzückt von dem teuflischen schein ·
Verprasset was blieb von dem früheren seim
Und fühlt erst die not vor dem ende.

Dann hängt ihr die zunge am trocknenden trog ·
Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof ..
Und schrecklich erschallt die posaune.

Die Zeilen des großen Sprachkünstlers und die Versuchungsgeschichte aus dem Matthäusevangelium blieben und werden (wieder) wichtig! Sie lassen uns erkennen, in welcher Situation wir uns erneut befinden …

der Glasbläser

Da war er also tatsächlich gekommen … Der ihn abholen sollte, er war nun da. „Repatriierung” murmelte der Mann im anthrazitfarbenen Mantel. Am Revers des Kragens war eine kleine silberne Sense zu sehen. Dort, wo früher die Parteiabzeichen gesteckt hatten. „Aus Neusilber?” fragte der Glasbläser. „Platin mit einem Schuss Iridium” antwortete der Mann. Er stellte sich vor: „Ich bin der Tod. Und Du bist der Erwählte. Zur Heimfahrt gilt es sich zu rüsten. Gib deine Hand. Bin Freund – und komme nicht zu strafen.” Der Glasbläser lächelte schwach – und bang. Zwar war man kein kleines Kind mehr, sondern ein alter Mann von 90 Jahren. Aber, nun hieß es mitzugehen – mit diesem seltsamen Fremden in dunklem Mantel. Plantinabzeichen.

Beim Wandern nahm der Fremde wie nebenbei die Personalien des Glasbläsers auf. Name, Geburtsdatum und so weiter. Der Name wurde in eine Zahl umgerechnet – und das Geburtsdatum in ein Wort verändert. Dann las der Glasbläser den Grund ihrer Fahrt auf dem Formularbogen: „Rückführung vom Planeten Erde.” Er bekam irgendeinen Code auf den Hals gedruckt – und weiter ging es. Es ging – irgendwie hinauf. Der Fremde meinte, man müsse jetzt die Grenze überqueren. Und fügte hinzu: „Du solltest nicht hinschauen auf all die Grausamkeiten, die dort sichtbar werden. Du würdest viele Seelen sehen, die sich danach drängeln, wiedergeboren zu werden.” Der Glasbläser erschrak: „Wiedergeboren?” – „Reinkarnation ist der Fachbegriff!” setzte der Fremde hinzu. „Du für deinen Teil wirst endgültig zurückgeführt. Du musst dort unten nichts mehr suchen, weil du dort nichts verloren hast!” 

Der Glasbläser befolgte den Rat des Fremden aber nicht, sondern schaute doch auf die Grenze. Und was er sah – darüber zu berichten sträubt sich die Feder. Nur soviel: Ein Hauen und Stechen geschah da drunten um die vordersten Plätze. Sie wollten alle reich und glücklich werden. Anerkennung und Liebe – darum prügelten sich die armen Seelen, bevor sie in irgendwelche mühsam ergatterten Leiber fuhren, welche zuerst noch ganz klein und unscheinbar waren – Seinsföten oder Daseinsembryonen. Man ahnte schon, wie das Ende wäre … 

Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne. 

Hatte nicht Hugo von Hofmannsthal genauso gedichtet? Der Fremde unterlag inzwischen einer sonderbaren Veränderung – der dunkle Mantel war lichter geworden, das Angesicht freundlicher. Die Sense verschwunden – in eine Harfe verwandelt. „Aus Platin?” fragte der Glasbläser. „Silber” sagte der Fremde und fügte hinzu „Wundere dich nicht über die Veränderung, die du an mir gewahrst. Ich bin nun nicht mehr nur dein Tod, sondern eines der Engelwesen. Und der Schlag, der dich rührte, gilt hieroben als Ritterschlag, wenn du weißt, was ich meine.” Der Glasbläser: „Wie im Märchen?” – „In etwa” meinte der Engel und die Fahrt ging nun richtig weit hinaus – die Grenze mit den sich streitenden Seelen war nicht mehr erkennbar, nur noch als scharfes Band, das die Welt in zwei Teile zerschnitt. In eine gute und eine bessere.

„Du solltest dich nicht fürchten” sagte der Engel erneut. „Denn du wirst hinfort nicht mehr Glas blasen und die heißen Glutklumpen aufblähen, was dir deine Lunge zerstörte. Sondern du wirst in den Himmeln – denn dahin führt unsere Reise – Welten vergolden. Die Welten, die wir immerfort erschaffen mit Hilfe der Gebete guter und gerechter Menschen von drunten auf der Erde, gewinnen mit etwas Gold auf ihrer Oberfläche eine gewisse Haltbarkeit und Anschauung. Jeden Tag drei Kugeln vergolden und zwischendurch Gesang mit Spiel. Noch was! Bratwurst und Klöße gibt es nicht bei uns heroben. Damit ist es endgültig vorbei. Aber Nektar und Ambrosia sind ausreichend vorhanden.” 

Dann kamen sie an einem Palast vorüber mit großen Spiegelfenstern und der Glasbläser konnte sich darin selber erblicken. Er war gar nicht mehr der vom Leben, vom Nitrolack und dem heißen Nitrat versehrte alte Greis mit dem grämlichen Gesicht und dem Scharfen Husten. Er war ein junger Glasbläsergeselle im Alter von siebzehn Jahren. Ein fescher Kerl – und was er da gerade eben erlebte, war seine Rückführung in die alte Heimat des verloren gegangenen Gartens. Ja, nun – man hatte zwar gewusst, dass da unten keine bleibende Statt wäre – aber man wollte es nie so richtig wahrhaben. „Und kehren alle Migranten von den Planeten, auf die sie verbannt, vertrieben oder entsandt worden waren, zurück?” Wollte er fragen. Aber wusste im Moment der Frage, dass es wohl genauso war. Für immer. 

Mit dem Glasbläser kamen auch viele andere an. Man stellte sich in einer Reihe auf, die zugleich ein Kreis war. Und sah, dass die weiter vorn Stehenden mit ihren englischen Begleitengeln bereits verschmolzen und eins geworden waren. Auf diese Art und Weise kehrte man heim zur ewiglichen Gottesebenbildlichkeit. Unten hatte man immer gedacht, wenn das geschähe, wäre alles vorbei. Aber gar nichts war vorbei … Offenbar fing alles gerade erst richtig an. 

Der Glasbläser richtete sich auf. „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.” Murmelte er. Und als er das Wort „Kraft” auf seinen Lippen formte, spürte er, wie der Engel neben ihm verschwand – weil er selber nun dieser Engel geworden war. Wie leicht wog die Harfe in der Hand …